Es ist schon spät, die Sonne nicht mehr zu sehen. Papa kommt von der Arbeit heim, Sohnemann – schon im Schlafanzug – springt mit einer Umarmung am Vater hoch und wird vom ihm festgehalten.
"Papa, Papa, was verdienst du in der Stunde?"
Der Vater schaut den Sohn misstrauisch an. Will der Kleine wieder irgendeinen Schund von seinem sauer verdienten Geld kaufen? "Warum willst du das wissen?", fragt er schroff zurück.
"Bitte sag es, Papa!"
Na gut, denkt Vater. Vielleicht interessiert er sich ja einfach nur für meinen Beruf. "30 Euro pro Stunde."
"Oh...", der Blick des Sohnes verfinstert sich. Sein Gesicht wird ernst, offenkundig denkt er angestrengt nach. Schließlich fragt er strahlend: "Kannst du mir 10 Euro leihen?"
"Hab ich es doch gewusst." Der Vater stellt seinen Sohn mit einem Ruck auf dem Fußboden ab und geht ärgerlich ins Wohnzimmer. Im Weggehen ruft er: "Ab ins Bett mit dir. Ich muss hart für das Geld arbeiten. Denk einfach mal darüber nach, dass mit Leihen kein Geld verdient wird. Es ist unverschämt, andere für sein eigenes Vergnügen arbeiten zu lassen."
Ohne Widerworte geht der Sohn ins Bett. Noch eine halbe Stunde ärgert sich der Vater über seinen egoistischen und verzogenen Sohn. Doch dann kommen ihm Zweifel. Vielleicht wollte sein Sohn etwas Sinnvolles von dem Geld kaufen. Vielleicht ein Geschenk für die Mutter, richtig, sie hat ja nächste Woche Geburtstag. Sofort bereut der Vater seine harschen Worte.
Eilig holt er 10 Euro aus seinem Portemonnaie und rennt die Treppe hinauf. Vor der Zimmertür seines Sohnes angekommen klopft er vorsichtig an. "Schläfst du schon?", fragt er leise.
Der Sohn antwortet: "Aber nein, ich lese noch, komm rein Papa."
Schon beim Hineingehen sagt der Vater: "Entschuldige mein Liebster. Es war ein harter Tag und ich hatte schlechte Laune. Hier sind die 10.- Euro, um die du mich gebeten hast. Du kriegst sie geschenkt, schließlich hast du schon lange nicht mehr nach Geld gefragt."
"Danke Papa", sagt der Sohn strahlend und holt unter seinem Kopfkissen einen Briefumschlag hervor. Er zählt die wenigen darin enthaltenen zerknitterten Scheine und die vielen kleinen Münzen.
Sofort steigt wieder Ärger im Vater auf: "Das gibt es doch gar nicht. Da hast du doch genug Geld, warum muss ich dir noch mehr geben?"
"Weil ich noch nicht genug hatte, Papa. Jetzt habe ich 30 Euro zusammen. Dafür möchte ich eine Stunde deiner Zeit kaufen, wenn dies möglich ist. Vielleicht kannst du die Stunde morgen früher nach Hause kommen, dann können wir alle zusammen essen und vielleicht noch mit dem Lego spielen?" Die großen Augen des Sohnen blicken erwartungsvoll.
Dem Vater schießen die Tränen hervor. Rasch beugt er sich zu seinem Sohn herab und nimmt ihn fest in die Arme. Er lässt ihn lange nicht los.